FRANKFURT. Dass er ständig auf die Menschenrechtslage in seiner Heimat angesprochen wird, erscheint Donghua Li heute wie der pure Hohn. Obwohl er sich selbst so oft unterdrückt gefühlt hatte im chinesischen Trainingszentrum der Kunstturner in Peking, damals in den 80er Jahren. Obwohl er 1989 in die Schweiz ausgewandert war und bewusst auf die Chance verzichtet hatte, sich in der Heimat China als Olympiasieger unsterblich zu machen. Und obwohl er in der Überzeugung gegangen war, im fernen Luzern erwarte ihn die große Freiheit. Denn gerade in der Schweiz, im verheißungsvollen Westen, war Donghua Li dem Aufgeben näher als je zuvor: „Ich musste mehr als andere beweisen, dass ich als Mensch Achtung verdient hatte.“
Mehr als einmal hat Donghua Li die schmerzhafte Erfahrung gemacht, dass die Wirklichkeit komplexer ist als er zu wissen glaubte, auch als das, wovon er träumte. So wurde ihm in der Schule eingetrichtert, Tibet sei seit jeher ein Teil Chinas und die Okkupation von 1959 sei eine Befreiung gewesen. Nach vielen Jahren in Europa kennt er auch die andere Version der Geschichte. Für seinen neuen Job als „Olympia-Attaché“ der Schweizer Delegation an den Olympischen Spielen 2008 in Peking, scheint der 40-jährige gebürtige Chinese wie gemacht, er der 1996 in Atlanta das erste Olympische Turngold am Pauschenpferd wieder nach 100 Jahren für die Schweiz gewann. Er wird nach Peking reisen und um Verständnis werben; um Geduld und darum, dass sich keiner zu schnell oder zu lautstark ein Urteil bildet über das Land der Olympia-Gastgeber. So vergibt Li sogar jenen chinesischen Funktionären, die ihn einst vor die grausame Wahl gestellt hatten: Nationalmannschaft oder Liebe.
Es war 1988, im Jahr der olympischen Spiele von Seoul, die Li nach einem Kopfsturz vom Barren nur im Fernsehen verfolgen konnte. Bei einer zufälligen Begegnung auf dem Platz des himmlischen Friedens verliebte sich der verzweifelte Athlet in eine Touristin aus dem fernen Luzern – die Beziehung zu einer Ausländerin war für die chinesischen Turnväter ein Unding. Drei Tage gaben sie ihm Bedenkzeit. Der junge Patriot erlebte traumatische Tage, am Ende hörte er auf sein Herz und zog kurz darauf in die Schweiz. Ein Nackenschlag auch für seine Familie, die bis dahin vom Staat gut versorgt wurde.
Fünf Jahre dauerte es nach der Hochzeit mit der Schweizerin Esperanza Friedli, bis er 1994 eingebürgert war und endlich für sein zweites Heimatland starten durfte. Fünf Jahre, in denen er, der Champion, zum täglichen Training seine Geräte, im Gegensatz in China, oft selbst aufbauen mußte. In den Trainings mußte er dann mitanhörte, wie Schweizer sich sorgten, „dass der blöde Chinese unsere Startplätze klaut“. Li war isoliert von der Weltspitze, mit der er doch so leicht hätte mithalten können in dieser Zeit. Es waren seine stärksten Jahre als Sportler und sie drohte ihm zu entgleiten. Auch 1992 in Barcelona musste er wieder zuschauen, der Schweizer Pass kam zwei Jahre zu spät. Fünf Jahre lang stand Li „täglich auf der Kippe, alles hinzuschmeissen“. Als gescheiterter Schweizer Neubürger seine Turnkarriere zu beenden und die Verheissung in den Wind zu schreiben, die er sich 1987 mit dem Titel des chinesischen Meisters am Pauschenpferd selbst zugeflüstert hatte – gilt doch der Meister im Reich der Mitte seit jeher auch als Medaillenfavorit bei Olympia und bei Weltmeisterschaften. Er schien das schlechte Karma auch nach dem Umzug in die Schweiz einfach nicht los zu werden – zu oft schon hatte er im entscheidenden Moment seine Träume in Trümmern gesehen, um weiter bedingungslos an sich zu glauben.
Als Sechzehnjähriger war Donghua Li 1983 von der Sportschule in Chengdu in den chinesischen Nationalkader nach Peking berufen worden. Das war für meine Familie eine grosse Chance, auch um finanziell abgesichert zu sein“, erklärt er. Die Entscheidung für das Sportlerleben hatten Trainer und Eltern gefällt – Li konnte froh sein, dass es ihm bald auch selbst Spass machte, denn ihm selbst wurde keine Wahl gegeben.
Als dem Turnzentrum in der chinesischen Hauptstadt im Sommer 1984 neue Sprungbretter geliefert wurden, kam der erste von vielen Rückschlägen, und um ein Haar wäre es schon der letzte gewesen. Donghua Li verschätzte sich im Sprungtraining katastrophal, katapultierte sich mit voller Geschwindigkeit gegen statt über das Pferd. Sechs Stunden lang war er klinisch tot, die Milz und eine Niere wurden ihm entfernt. Die Ärzte sagten, dass er nie wieder Sport treiben könnte, und Li sah keinen Ausweg: „Ich habe mir nur noch gewünscht zu sterben“. Allein der Familie wegen wagte er es noch nicht aufzugeben, und nach monatelanger Rehabilitation stand er wieder in der Halle.
Seine Trainer waren unerbittlich, trieben ihn auch gegen Schmerzen und Müdigkeit immer wieder an die Geräte. Bei einem Absprung zum Doppelsalto am Boden riss er sich beide Achillessehnen, erneut drohte das Ende der Karriere. Ein Mehrkämpfer konnte er nun nicht mehr sein, es galt umsatteln. So wurde Li zum Pauschenpferdspezialisten und 1987, im Alter von 19 Jahren, chinesischer Meister, den Olympiasieg in Seoul fest im Visier. Sieben Jahre später im australischen Brisbane, als er endlich für die Schweiz starten durfte, war er dem olympischen Traum immer noch keinen Schritt näher gekommen, aber inzwischen 27 Jahre alt. In Brisbane holte Donghua Li WM-Bronze am Pauschenpferd, ein Jahr später Gold im japanischen Sabae. Und als er 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta Gold für die Schweiz gewann, feierten ihn Millionen Chinesen wie „ihren“ Champion.
In China wäre er damit auf einen Schlag Millionär gewesen, nicht so in der Schweiz. Li hält sich mit Schauturnen und Trainerstunden über Wasser und berät Firmen, die in China investieren wollen. In seiner Funktion als Attaché soll er den Sportlern Türen öffnen. Er soll zwischen den Kulturen vermitteln – zwangsläufig auch in politischen Fragen, die er besonnen analysiert. „Ich rate jungen schweizer Athleten nicht dazu, die Bühne der Spiele für Proteste zu nutzen. Auch ein Boykott der Eröffnungsfeier trifft kaum die Regierung, sondern eher den Stolz der Menschen, die sich wahnsinnig auf die Spiele freuen“, sagt Li. Eher sollten Sportler den Kontakt zur Bevölkerung suchen und im Privaten ihre Meinung vertreten. Sie sollten erzählen, wie China in der Welt wahrgenommen wird. „Proteste tauchen in den staatlichen Medien ohnehin nicht auf“, befürchtet er.
Vor vier Jahren trug Li das olympsiche Feuer auf dem Weg nach Athen. Dass im chinesischen Fernsehen die Proteste nun weitgehend ausgeblendet werden, widerspricht zwar allem, was Donghua Li nach den ersten Schweizer Durstjahren an Europa zu schätzen gelernt hat. „Jeder sollte diese Bilder sehen dürfen“, sagt er. Doch die Proteste könnten 100 Millionen Chinesen in Aufruhr versetzen – „die Stabilität im Land wäre dahin.“ Außerdem befürchtet der 40-jährige Wahlschweizer, dass die Tibeter nach den Spielen die geballte Wut über Zwischenfälle zu spüren bekommen. „Und ob dann weiterhin die ganze Welt dorthin blickt, da bin ich mir nicht so sicher“, warnt er. Kontinuität auf dem Weg zu einer Lösung könne nur im Stillen entstehen. „Trotzdem muss China sich weiter öffnen, auch für direkten Dialog mit dem Dalai Lama.“
Donghua Li hat ein Buch geschrieben, das bisher nur auf Chinesisch erhältlich ist. „Grenzen durchbrechen“ heißt es und beschreibt seinen Weg als Sportler und die Grenzen und Abgründe, die ihm sein Umzug in die Schweiz aufgezeigt hat. Ob es an seiner Jugend in China liegt oder an den harten Anfangsjahren in Luzern, Donghua Li hat gelernt, nie aufzugeben; er glaubt jetzt daran, dass am Ende jeder Durststrecke die Erfüllung eines Traums stehen kann – in seinem Fall die Goldmedaille bei den Olympischen Spielen.
Niklas Schenck |