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27.07.1996

“Auch Adler müssen einmal landen, sonst stürzen sie ab”

ATLANTA. Interview: 1 Tag vor Olympische Final

Mit welcher Strategie “Adler” Donghua Li Olympia-Gold gewinnen will

Er behauptet, er habe die Favoritenrolle beim Pferdpauschen nicht, die habe Marius Urzica. Donghua Li, der China-Luzerner, zu seiner Vergangenheit und seiner längerfristigen Zukunft. Mit oder ohne erste Olympia-Goldmedaille.

VON UELI BACHMANN

Donghua Li, die grosse Schweizer Gold-Hoffnung, kam nach seiner Heirat mit der Luzernerin Esperanza Friedli vor sieben Jahren von China in die Schweiz. Vor zwei Jahren wurde er Schweizer, und in diesen zwei Jahren hat er drei Weltmeisterschaften bestritten und am Pauschenpferd einen ganzen Medaillensatz gewonnen; im Mai wurde er Europameister. Was noch fehlt, ist der Olympiasieg. In der Nacht auf morgen Montag (MEZ) greift der 29jährige Turner nach der höchsten Krone im Kunstturnen. Auch wenn es nicht reichen sollte, auch wenn er “nur” Zweiter oder sogar ohne Medaillen nach Hause reisen würde, Donghua Li bleibt eine Persönlichkeit mit besonderer Ausstrahlung und ausserordentlichem Charisma. Es hört sich zwar an wie Platitüden: Aber er ist nun mal liebenswürdig, hilfsbereit und zuvorkommend und hat erst noch feinen Humor und auch Charme. Donghua Li, das ist aber auch ein Sportler mit einem unglaublichen Ehrgeiz und einer Starrköpfigkeit und Pedanterie in turnerischen Belangen, welche sein Umfeld zuweilen ganz schön auf Trab halten.

Das rein technische Können hat Donghua Li in einer knallharten chinesischen Kunstturnerschule gelernt in einem jahrelangen Drill, wie er hierzulande verpönt ist. In China gibt es viele Turner, die diese Schulen durchlaufen, doch nur wenige Athleten sind so erfolgreich wie Donghua Li. Einzigartig ist Donghua Li, weil es ihm gelang, sein Können nach seiner Einreise in die Schweiz praktisch in Eigenregie zu konservieren und sogar noch zu verbessern, und das in einem Alter, in dem seine Kollegen in China längst in den Trainerjob wechseln.

Donghua Li, vorgestern ist unser Termin geplatzt, weil eine Fernsehequipe Sie in Beschlag genommen hat, gestern war die Warteliste der Medienschaffenden überlang. Ist eine richtige Vorbereitung auf den Final überhaupt noch möglich?

Li: Ich habe die sechs Ruhetage gut genutzt; ich habe mich erholt und bin mit der Vorbereitung zufrieden.

Aber es stimmt, viele wollen jetzt etwas von mir. Das überrascht Sie?

Li: Damit musste ich rechnen.

. . . weil Sie der Favorit für Olympiagold sind?

Li: Das bin ich nicht. Die Favoritenrolle hat jetzt Marius Urzica. Er kam mit der höheren Kürnote in den Final.

Verunsichert Sie das?

Li: Nein, ich musste morgens früh antreten, er aber in einer besseren Abteilung und erst noch mit einer Mannschaft, mit der es leichter ist, hohe Noten zu erhalten.

Sie waren nur Zwölfter nach der Pflicht und mussten trotz zweitbester Kür um die Qualifikation zittern . . .

Li: Ich hatte nach der Kür keinen Augenblick Angst um meine Qualifikation. Ich war mir sicher, dass es reicht. Und ich bin sehr stolz darauf: Ich glaube, ich bin der erste Turner überhaupt, der als Einzelturner an einem grossen Wettkampf einen Final erreichte.

Sie sagten auch, Sie seien stolz, diese Leistung auch für die Schweiz erreicht zu haben. Wie ist das zu verstehen?

Li: Die Schweiz ist meine Heimat.

Als Li Xiaoshuang vom chinesischen Team um Gold im Mehrkampf turnte, waren sie vor Nervosität kaum ansprechbar, fieberten mit ihm mit wie mit einem Mannschaftskollegen - die Bindung zu früheren Landsleuten ist also noch stark?

Li: Ich war riesig nervös, hoffte mit Xiaoshuang auf den Olympiasieg. Aber das ist normal: Die Schweiz ist meine neue Heimat, China meine alte Heimat. In der Schweiz habe ich sieben Jahre, in China über 20 Jahre gelebt, dort sind auch meine Eltern und mein jüngerer Bruder Dongjian. Was Li Xiaoshuang betrifft - mit ihm fühle ich mich noch speziell verbunden.

Sie waren einen Sommer lang sein Trainer. Warum?

Li: Ich war zu dieser Zeit verletzt und wurde als Betreuer von ein paar Junioren eingesetzt, die um die Aufnahme ins Nationalkader kämpften.

Die Geschichte ist bekannt. (Junior Xiaoshuang wurde von den Cheftrainern nicht als Talent erkannt, Donghua Li setzte sich für ihn ein, musste ihn aber dann doch zur Rückreise auf den Bahnhof bringen.) Doch wie kam es zu dieser Verletzung?

Li: Es war Anfang Januar 1988. Ich fiel bei der Koroljew-Grätsche am Barren (Riesenfelge zum Eingrätschen, Anm. der Red.) aufs Genick und brach mir einen Halswirbel. Ich hatte grosses Glück im Unglück.

Es war die dritte schwere Verletzung. Muss ein Kunstturner mit solchen Risiken rechnen?

Li: Sicher nicht, Turnen ist nicht gefährlicher als andere Sportarten, aber ich bin eben eine Ausnahme.

Wegen dieser Verletzung hatten Sie im Sommer 1988 offenbar auch Zeit für Spaziergänge . . .

Li: Ja, ich lernte Esperanza kennen.

. . . und heirateten Sie bereits Sechs Monate später. Deshalb gab es Probleme mit den Trainern?

Li: Nein, meine Trainer standen immer zu mir, ich habe ja noch heute gute Kontakte zu ihnen. Auch hier in Atlanta waren sie die ersten, die mir gratulierten. Nein, es waren die politischen Behörden, die wegen der Heirat mit Esperanza den Ausschluss aus dem Nationalkader anordneten. Aber das ist vorbei, darüber will ich eigentlich gar nicht reden.

Hat Sie der Ausschluss hart getroffen?

Li: Ja. Sportlich und beruflich war ich ruiniert. Ich war bis dahin ein angesehener und gut verdienender Sportler: Ich hatte als Jugendlicher ein höheres Einkommen als mein Vater, der zu Hause in Chengdu als Maschineningenieur bei der Stadt arbeitete. Damals verdiente auch er gut, aber heute ist das anders; er musste bis vor kurzem noch am Abend einem zweiten Beruf nachgehen.

Die unsichere Zukunft in China erleichterte den Entscheid, Ihrer Frau in die Schweiz zu folgen?

Li: Nicht nur deswegen, es liegt auch an meinem Typ: Ich bin eben ein Adler.

Ein Adler? Wie meinen Sie das?

Li: Ich bin überzeugt, dass wir Menschen mit der Natur eng verbunden sind und wir - wie sagt man - verwandt sind auch mit der Tierwelt: Andere sind Tiger, ich bin ein Adler, einer, der die Weite sucht, gerne reist und viel Freiheit braucht.

Aber ist die Schweiz, ist erst noch Luzern nicht ein bisschen eng für einen Adler?

Li (lacht herzhaft): Wenn ich an gewisse Möglichkeiten denke, dann sicher.

An was denken Sie?

Li: Im sportlichen Bereich sind die Bedingungen nicht sehr gut, in China, aber auch etwa in Italien und vor allem in Frankreich sind sie viel besser. Rein von den beruflichen oder finanziellen Möglichkeiten als Kunstturner her hätte ich ohnehin in China bleiben müssen.

Sie sagten, für Ihre Eltern sei das Leben in China sehr hart geworden.

Li: Für sie schon, nicht aber für Sportler. Li Xiaoshuang erhielt allein für seinen Olympiasieg im Bodenturnen vor vier Jahren in Barcelona fast eine Million.

In Franken?

Li: Nein, chinesische Yüan. Das kann man nicht umrechnen, doch für eine Million müsste in China ein Arzt mehr als 100 Jahre arbeiten.

Sie haben nach ihrem WM-Titel Sponsoren gefunden mit lukrativen Verträgen, für WM-Silber gab es vom Schweizerischen Turnverband 15 000 Franken, für EM-Gold 20 000 Franken und für den Olympiasieg sind 40 000 Franken ausgesetzt. Das ist nicht wenig.

Li: Ich bin ja zufrieden, und zwar mit allem. Was in diesen zwei Jahren passiert ist, ist für mich unglaublich. Aber ich bin Kunstturner und habe sonst keinen Beruf gelernt. Ich muss in die Zukunft schauen. Ich möchte eine richtige Familie, wir möchten ein Kind, und wir träumen auch von einem Haus, und das ist in der Schweiz selbst mit einem Olympiasieg nicht zu erreichen.

Darüber wäre ich mir gar nicht so sicher. Doch ab Montag wissen Sie vielleicht mehr. Oder wie sehen Sie die Chancen auf den Olympiasieg?

Li: Ich habe die Chancen, eine Medaille zu gewinnen.

. . . aber Silber wäre für Sie eben doch eine Enttäuschung oder etwa nicht?

Li (nach einer Pause): Es ist falsch zu sagen, ich gewinne Gold. Da muss man auf dem Boden bleiben - wie die Adler; auch die müssen einmal landen, sonst stürzen sie ab. Das einzige was ich unbedingt will, ist im Final mein Bestes geben. Alles andere liegt in anderen Händen.

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