«Ich habe jedes Mal Atemprobleme»
Zwölf Jahre nach seinem Olympiasieg kehrt Donghua Li (40) ins olympische Dorf zurück – als Attaché von Swiss Olympic
Wenn einer der Schweizer Delegation in Peking Tür und Tor öffnen kann, dann Donghua Li. Der Olympiasieger von 1996 reist morgen in offizieller Mission in seine alte Heimat.
VON PATRIK SCHNEIDER
Donghua Li, wünschten Sie sich manchmal, zwölf Jahre jünger zu sein?
Donghua Li: Jünger ist immer gut. Leider bin ich weder Superman noch Spiderman. Für jeden Menschen ist es das Gleiche: Man wird jedes Jahr älter.
Aber ein Olympiasieg in Ihrer alten Heimat, das wäre nochmals eine ganz andere Dimension.
Ja klar. Aber ich bin dankbar für das, was ich bis jetzt erleben durfte. Es waren schöne, spezielle Dinge. Dazu gehören die Olympischen Spiele und insbesondere der Olympiasieg.
Wenn Sie an China denken, haben Sie manchmal noch Heimweh?
Jetzt nicht mehr. Am Anfang war das anders. Schlimm war es in den ersten fünf Jahren. Jedes Mal, wenn ich am Himmel ein Flugzeug sah, habe ich mir gedacht: Wie schön wäre es, wenn ich da mitfliegen könnte – nach Hause. Für mich war alles fremd. Ich war nicht akzeptiert von der Gesellschaft, hatte keine Freunde. Ich fühlte mich einsam. Ich trainierte zwar wie ein Profi, erhielt aber fünf Jahre lang keinen Lohn und lebte am Existenzminimum. Für viele Leute im Westen tönt das brutal hart, wenn man wie ich im Alter von sieben Jahren in einer Sportschule die Ausbildung begonnen hat. Für mich waren aber die ersten Jahre in der Schweiz viel härter als jene im Internat. Ich gab alles auf, was ich 20 Jahre lang in China aufgebaut hatte. Auch finanziell. Als chinesischer Meister wäre ich für mein ganzes Leben abgesichert gewesen.
Wenn Sie am 28. August wieder nach Peking fliegen, ist das eine Art Heimkehr?
China ist für mich immer noch mein Zuhause. Meine Eltern wohnen dort, ich habe viele Freunde und Bekannte. China ist meine alte, die Schweiz meine neue Heimat. Hier ist meine Tochter geboren und aufgewachsen.
Kennt man Sie in China noch?
Damals, als ich mit 19 chinesischer Meister wurde, galt ich als grosser Hoffnungsträger in der Turnszene. Dies, obwohl ich mit 16 bei einem Unfall im Pferdsprungtraining eine Niere und die Milz verloren hatte und fast gestorben wäre. Mein Arzt sagte mir, ich könne wahrscheinlich nie mehr Spitzensport betreiben. Ich bin ein Beispiel dafür, dass man es trotz schwerer Verletzungen kann. Meine Geschichte war damals in China sehr bekannt. Als ich in die Schweiz kam, verschwand ich von der Bildfläche. Viele Fachleute dachten, Donghua Li sei weg vom Fenster. Erst als ich an der WM 1994 Bronze holte, war ich in China plötzlich wieder ein Thema. Meine späteren Titel lösten in China grosse Bewunderung aus, in den Medien, aber auch bei der Normalbevölkerung. Für viele Chinesen ist es bis heute ein grosser Traum, einmal im Ausland Karriere zu machen. Mein Olympiasieg ist in der Geschichte des Landes nach wie vor der einzige, der von einem in China geborenen und ausgebildeten Sportler für eine andere Nation erreicht wurde.
Hat man es Ihnen nicht übelgenommen, dass Sie China den Rücken gekehrt haben?
Im Gegenteil. Viele Chinesen waren fasziniert von meiner Leistung, zumal kaum einer an die Möglichkeit gedacht hatte, dass ich nach all den Jahren wieder an die Weltspitze gelangen würde. Und obwohl ich die Goldmedaille für die Schweiz geholt habe, hat man in China gesagt: Donghua Li ist auch unser Olympiasieger. Das hat mich sehr berührt. Das chinesische Staatsfernsehen CCTV hat sogar einen Dokumentarfilm gedreht, ein weiterer entsteht derzeit. Für mich ist das eine grosse Bestätigung. Trotz vieler Rückschläge habe ich immer an dieses Ziel geglaubt. Ich habe nie aufgegeben. Am Schluss hat es sich gelohnt. Viele Sachen sind möglich, wenn man wirklich daran glaubt.
Haben Sie jemals etwas bereut?
Ja, am Anfang dauernd. Die psychische Belastung war sehr gross, finanziell war ich in Schwierigkeiten. Jeden Tag tobte in mir ein Kampf. Soll ich aufgeben? Soll ich weitermachen? Diese Phase hat mich sehr stark gemacht.
Sie sind als Olympia-Attaché in offizieller Funktion in Peking. Wie können Sie der Schweizer Delegation Tür und Tor öffnen?
Mit meiner Erfahrung und mit meinen Beziehungen im chinesischen Sport. Ich habe viele Freunde von früher, die heute Entscheidungsträger sind, die im Sportbereich wichtige Positionen besetzen. Olympische Spiele sind organisatorisch gesehen ziemlich kompliziert. Wenn es Probleme geben sollte, können wir das mit meiner Hilfe schneller lösen. Ich wohne deshalb auch im olympischen Dorf, um nahe bei den Athletinnen und Athleten zu sein.
Was erwarten Sie von China als Gastgeber?
Im ganzen Land ist die Begeisterung riesengross. Man wird versuchen, sein Bestes zu geben, der bestmögliche Gastgeber zu sein. Ich hoffe, dass diese Bemühungen Früchte tragen. Mein grösster Wunsch ist es, dass die Spiele nicht durch politische Aktionen oder andere Probleme kaputt gemacht werden. Viele Chinesen freuen sich einfach, dass die Olympischen Spiele in China stattfinden. Der intensive Kontakt mit Ausländern und der Informationsaustausch sind wichtig für die Zukunft des Landes.
Rechnen Sie denn mit politischen Aktionen?
Schwierig zu sagen. Es ist schon einiges passiert, ich denke da an den Tibet-Konflikt und den Fackellauf. Olympische Spiele aber sollten sich auf den Sport konzentrieren. Sie sollten eine Plattform sein für Sportler aus aller Welt. Der Sport muss im Zentrum stehen und nicht die politischen Probleme. Das wünsche ich mir.
Was werden die Schweizer Teilnehmer in Peking für eine Rolle spielen?
Obwohl die Schweiz ein kleines Land ist, haben die Sportlerinnen und Sportler immer gute Leistungen gezeigt. Darauf kann man stolz sein. Ich wünsche mir sehr, dass es mit dem Olympiasieg von Roger Federer diesmal klappt. Chancen haben wir auch im Mountainbike, Beachvolleyball und in anderen Sportarten.
Was ist Ihre grösste Sorge?
Das Klima. Weil ich schon lange in der Schweiz lebe, bin ich jedes Mal krank, wenn ich in China gewesen bin. Ich habe dann jeweils grosse Probleme mit dem Atmen, bin immer etwas erkältet. Diese Sorge haben auch die Athleten. Draussen ist es sehr heiss und feucht, drinnen aufgrund der Klimaanlagen richtiggehend kalt. Da muss man aufpassen und immer einen warmen Pullover oder einen Trainingsanzug dabeihaben. Vorsichtig zu sein lohnt sich auch anderswo, insbesondere bei der Nahrungsaufnahme.
Wenn Sie nicht in offizieller Mission unterwegs sind, was machen Sie dann?
Wenn es möglich ist, werde ich mir die Kunstturnwettkämpfe ansehen. Ich hoffe, ich habe Zeit dafür. Federer würde ich natürlich gerne verfolgen, vielleicht ja den Final. Bisweilen werde ich auch im House of Switzerland, wo meine eigene Ausstellung untergebracht ist, anzutreffen sein. Zugesagt habe ich bereits für einen Pferdpauschen-Auftritt an der 1.-August-Feier. Ich habe dafür bekannte Persönlichkeiten eingeladen. Diese Möglichkeit, verschiedene Menschen und Kulturen zusammenzubringen, ist grossartig.
Kein Abstecher in eine Karaoke-Bar?
Wenn ich Zeit habe, gehe ich sicherlich. Für Chinesen ist Karaoke das Unterhaltungsprogramm Nummer eins.
Haben Sie ein Lieblingslied?
Meistens singe ich auf Chinesisch, diese Lieder kennen Sie nicht.
Können Sie singen?
(Lacht) Ich übe viel. Meine Tochter spielt Querflöte, sie ist musikalischer und talentierter als ich. Ich singe einfach hobbymässig.
Vor neun Jahren haben Sie in China Ihre Autobiografie herausgebracht. Ist eine deutsche Fassung in Planung?
Ich bin daran, dass das Buch auf Deutsch und Englisch übersetzt wird. Dieses Projekt soll nach den Olympischen Spielen abgeschlossen sein.
Wie viele Bücher gingen in China über den Ladentisch?
Ich habe die Rechte an einen bekannten chinesischen Buchverlag verkauft. Die erste Auflage betrug 10 000 Exemplare, das Buch wurde aber mehrmals nachgedruckt.
Trainieren Sie eigentlich immer noch?
Ja, relativ viel. Heute trainiere ich aber eher für die Gesundheit und zum Spass. Und ich habe viel weniger Schmerzen als früher.
Könnten Sie mit der Schweizer Elite noch mithalten?
Ich trainiere nur noch für meine Show-Auftritte. Die Übungen lassen sich nicht vergleichen. Und die Technik ist eine völlig andere. Für mich ist es kein Thema mehr, weiter wettkampfmässig zu trainieren. Ich habe das über 20 Jahre lang gemacht. Das reicht.
Können Sie sich vorstellen, irgendwann mal wieder in China zu leben?
Heutzutage spielt es nicht mehr eine solch grosse Rolle, wo man lebt. Wichtig ist, dass man sich an diesem Ort zu Hause fühlt. Ich gehe jedes Jahr ein paarmal nach China, um meine Eltern zu besuchen. Heute ist alles viel näher als damals, als ich in die Schweiz kam. Fünf Jahre lang hatte ich keine Chance, meine Eltern zu besuchen. Das war sehr hart für mich. Heute gibt es Internet und gute Telefonverbindungen. Das schafft viele Kontakte und grosse Nähe.
Box 1
Zwei Stunden voller Angst und Sorgen
Als am 12. Mai eines der verheerendsten Erdbeben in Chinas Geschichte die Provinz Sichuan erschütterte, war Donghua Li gerade mit dem Auto unterwegs. «Ich habe es in den Nachrichten gehört und sofort angehalten.» Seine Eltern leben in Chengdu, der Hauptstadt von Sichuan, nur 40 Autominuten vom Epizentrum entfernt. «Ich habe versucht, sie zu erreichen», sagt Li. «Aber ich kam nicht durch. Ich hatte grosse Sorgen, ich wusste nicht, ob ihnen etwas zugestossen war.» Er griff erneut zum Handy, versuchte es wieder und wieder. Nichts. «Diese Angst war furchtbar.» Dann, nach zwei Stunden, kam die Verbindung endlich zustande. «Ich hatte meinen Vater am Telefon. Die ganze Stadt, über zehn Millionen Einwohner, befand sich draussen auf den Strassen. Ein unglaubliches Bild. Es muss ausgesehen haben wie das Ende der Welt.» Das Beben der Stärke kostete mehr als 70 000 Menschenleben. Donghua Lis Eltern hatten Glück. «In Chengdu waren die Schäden nicht so gross wie an anderen Orten. Aber eine solche Katastrophe ist schlimm. Wir sollten froh sein, dass wir normal leben können. Das ist ein grosses Geschenk.» (pat)
Box 2
Zur person
Donghua Li
Geboren: 10. Dezember 1967 in Chengdu
Wohnort: Benglen am Greifensee
Zivilstand: seit drei Jahren geschieden, eine Tochter (Jasmin, 11)
Grösste Erfolge: chinesischer Meister am Pferdpauschen 1987, WM-Dritter 1994, Weltmeister 1995, WM-Zweiter 1996, Europameister 1996, Olympiasieger 1996, Schweizer Sportler des Jahres 1995 und 1996
Aktuelle Tätigkeit: Donghua Li hat eine eigene Promotionsfirma und ist Attaché der Schweizer Olympia-Delegation |